Die Jahre | Zu Text und Inszenierung

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Die Gegenwart umspielen

Um etwas über die Gegenwart sagen zu können, lässt sie sich von der Vergangenheit oder der Zukunft her betrachten. Im aktuellen Schaffen von theaternyx* ergänzen sich diese beiden Möglichkeiten. Mit über.morgen haben Claudia Seigmann, Markus Zett und ihr Team im Frühjahr 2019 Fragmente einer urbanen Utopie für die Stadt Linz des Jahres 2050 gesponnen. Die Kreation dieses Audiowalks folgte der Frage, wie sich aus unserer Gegenwart heraus eine konstruktive, sozial-ökologische und klimasensible Zukunft entwerfen lässt und bot auf einem Spaziergang durch das gegenwärtige Linz Bilder einer utopischen Entwicklung der Stadt an. Das real Existierende wurde auf diese Weise als Keimzelle des Zukünftigen identifizierbar.

Nun aber wird ein Stoff realisiert, der dieselbe Frage in umgekehrter Blickrichtung untersucht: Welche Visionen, Ideen und technischen Errungenschaften der vergangenen achtzig Jahre führten zu der Gegenwart, in der wir uns heute wiederfinden? – Die französische Autorin Annie Ernaux will in ihrem Text Die Jahre die gesellschaftlichen Umwälzungen innerhalb eines Menschenlebens im Blick zurück zu fassen bekommen. Dafür hat sie eine literarische Form gefunden, in der sie kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklungen mit ihrer eigenen Lebensgeschichte parallel führt. Sie nennt das eine „unpersönliche Autobiographie“.

Befragung eines Zeitalters

Ernaux wurde 1940 in Lillebonne geboren, gilt als eine der Begründerinnen und Hauptvertreterinnen der modernen autobiografischen Literatur („Autofiktion“) und bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“.

»Sie würde die vielen verschiedenen Bilder ihrer selbst, die getrennt voneinander existieren, asynchron, gern in einer Erzählung vereinen, der Erzählung ihres Lebens, von der Geburt während des Zweiten Weltkriegs bis heute. Eine einzelne Existenz, die in der Bewegung einer ganzen Generation aufgeht. Doch jedes Mal, wenn sie anfangen will, steht sie vor demselben Problem: Wie kann sie das Vergehen der Zeit, die Veränderungen der Dinge, Ideen und Sitten und gleichzeitig das Innenleben dieser Frau schildern, wie kann sie ein Tableau über fünfundvierzig Jahre zeichnen und gleichzeitig nach einem Ich außerhalb der großen Geschichte suchen, einem Ich, das in herausgegriffenen Momenten existiert […].«

Aus unzähligen Mosaiksteinen setzt die Autorin in Die Jahre private Erfahrungen, persönliche Erlebnisse, sowie große Ereignisse des Weltgeschehens von 1940 bis heute zu einem Gesellschaftsporträt, einer universellen Chronik zusammen. Ihre Selbstbefragung verbreitert sich zur Befragung eines Zeitalters: jener Zeit, in der unsere heutige Gegenwart noch Zukunft war.

Konzentrische Kreise

»Millionen Bilder, Millionen Bilder im Kopf, Millionen Bilder im Kopf der Großeltern, gestorben vor einem halben Jahrhundert. Bilder im Kopf der Eltern, die ebenfalls nicht mehr sind. Bilder, in denen man selbst als kleines Mädchen im Kreise anderer Menschen auftaucht, die gestorben sind, bevor man selbst geboren wurde, so wie in den eigenen Erinnerungen die Töchter und Söhne als Kleinkinder von unseren Eltern in jungen Jahren und unseren Klassenkameraden umgeben sind. Und auch wir werden eines Tages in den Erinnerungen unserer Kinder im Kreise der Enkel stehen, im Kreise von Menschen, die noch gar nicht geboren sind.«

Kristallisationspunkte von Ernauxs persönlichen Erinnerungen sind Fotografien oder Videosequenzen, auf denen sie zu sehen ist. Sie wirft dieses visuelle Material in ihre „fließende Erzählung“ wie Steine in einen Fluss: Es entstehen für jedes Jahrzehnt ihres Lebens kurze, gebannte Momente des konzentrierten Schauens – und dann breiten sich die Wellen konzentrisch aus; berühren das, was in einem Leben den engsten persönlichen Kreis umgibt. Zunächst die Familie, ein Stück weiter außen dann gesellschaftliche Konfigurationen und Diskurse, nationale Politik und schließlich das Weltgeschehen. Die Wechselwirkung verläuft auch in die andere Richtung: von einschneidenden Weltereignissen hin zu ganz persönlichen Fragestellungen.

Analog dazu stellt Claudia Seigmann in ihrer Inszenierung das bildhafte Erzählen in den Mittelpunkt. Abseits der szenischen Illustration arbeitet sie am Vergegenwärtigen und Heraufbeschwören dessen, was verschwunden ist. Sie sucht mit ihren Spielerinnen den Atem der Aufführung, der zwischen biografischen Miniaturen und dem reißenden Fluss vielfältiger Weltbeschreibung oszilliert und spürt jenen innersten Haltungen nach, die vom jeweiligen Zeitgeist geprägt sind.

Ihre Inszenierung bewegt sich entlang eines Zeitstreifens durch den Raum. Ein großes bewegliches Bühnenelement beginnt in der Entfernung der Vergangenheit und kommt mit den Schauspielerinnen im Laufe des Abends durch die Jahrzehnte näher ans Publikum.

Am Familientisch

»Wenn man Ende der Siebzigerjahre zu Familienfeiern zusammenkam, eine Tradition, die man beibehalten hatte, obwohl alle über das Land verstreut waren, wurde das Gedächtnis immer kürzer. Bei Jakobsmuscheln, einem Rinderbraten vom Metzger – nicht aus dem Supermarkt – und Kroketten – tiefgefroren, aber sie waren genauso lecker wie die echten -, verglich man Automarken und neue Produkte, erzählte vom geplanten Hausbau oder dem Kauf einer Altbauwohnung.
Man schwelgte beim Essen nicht mehr in Erinnerungen an den Krieg und die deutsche Besatzung. Die Verbindung zur Vergangenheit war geschwächt. Man gab nur noch die Gegenwart weiter.
Die Zeit der Kinder löste die Zeit der Toten ab.«

Vieles wandelt sich im Lauf der Jahre in Ernauxs Erzählung. Ein wiederkehrendes Element sind die Familienessen, die sie in jedem Jahrzehnt als Wegmarke reflektiert – beginnend mit sich selbst als Kind kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und endend mit ihrem Blick als ältere Frau auf die Familien ihrer inzwischen erwachsenen Söhne. Immer wieder setzen wir uns auch in der Inszenierung an diesen Familientisch und lauschen den Beschreibungen der dort stattfindenden Gespräche.

Eine Geschichte weiblicher Emanzipation

In Die Jahre, diesem Lebenstext, steckt Stoff für mehrere Theaterabende; eine Dramatisierung muss notwendig Schwerpunkte setzen. Claudia Seigmann hat einen der Vektoren in ihrer Stückfassung hervorgehoben: die Aufwertung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen und die Veränderungen im Umgang mit weiblicher Sexualität. Ernauxs Sprache ist dabei direkt, bisweilen schonungslos.

»Später würde man sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern, nicht einmal mehr an den Monat – auf jeden Fall war es im Frühling -, sondern nur noch daran, dass man sämtliche Namen gelesen hatte, vom ersten bis zum letzten — es waren so viele, und man selbst hatte sich so allein gefühlt mit der Stricknadel und dem Blut, das auf das Laken spritzte —, die Namen aller 343 Frauen, die im Nouvel Observateur erklärten, abgetrieben zu haben.«

Immer wieder ist der eigene Körper Thema, vor allem aber begleitet sich die Autorin beim Älterwerden und spart auch Zweifel und Unbehagen nicht aus. Sie ist eine Dokumentaristin der Euphorien und Enttäuschungen eines Lebens, ohne sich je auch nur einen Funken Sentimentalität zu erlauben.

»Die Pensionierung, die lange Zeit die äußerste Grenze ihrer Vorstellungskraft dargestellt hatte. Ein Krebs, der in den Brüsten aller Frauen ihres Alters zu wachsen schien, ein Kind, das im Bauch der Lebensgefährtin ihres ältesten Sohnes heranwuchs – ein Mädchen, wie der Ultraschall später zeigte, als sie wegen der Chemo alle Haare verloren hatte. Dass ihr Sein in der Welt umstandslos ersetzt werden würde, erschütterte sie.«


Alle Zitate stammen aus: Annie Ernaux, Die Jahre. Suhrkamp: Berlin 2019. Übersetzung: Sonja Finck. Die französische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Les années bei Editions Gallimard, Paris.