über.morgen | Essay | Über uns selbst hinaus

sujet_übermorgen_WIEN 2022

Der folgende Essay entstand auf Einladung von Esther Holland-Merten als Originalbeitrag im Programmheft »dreizehn« von WUK performing arts anlässlich der zweiten Spielserie von über.morgen WIEN. Er fragt nach Motiven nachhaltigen Handelns und plädiert für Kunstwerke, die es uns ermöglichen, unsere Imagination in die Zukunft auszudehnen.

Claudia Seigmann, Markus Zett

We are nodes on intricate systems,
synapses snapping on a great collective brain;
we are in it together, for better or worse.

Rebecca Solnit

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Im Mittelalter war das erhoffte Seelenheil eine wichtige Triebkraft für Werke der Barmherzigkeit. Je nachdem, wie viel jemand hatte, gab diese Person Almosen, lud Hungernde an den eigenen Tisch ein, verrichtete Krankendienste, spendete Kleidung, Geld, Arbeitskraft oder stiftete Bauwerke wie Brücken und Armenhäuser. Denn für diese Taten wurden Sünden vergeben, die eigene Seele ein wenig leichter. Die Verheißung des jenseitigen Paradieses schuf Verbindungen, Solidarität und sozialen Ausgleich in der gegenwärtigen Gesellschaft.

Spuren davon haben sich bis heute erhalten und sind meist in einer privaten moralischen Haltung verankert, die sich gegen zeitgenössische Vereinzelung und unser ständiges, durch den Kapitalismus aufgezwungenes Konsument:innen-Sein auflehnt. Aber haben wir vor kurzem gehört, dass die hundert Wohlhabendsten der Welt ihr Vermögen möglichst vielen Menschen für ein möglichst gutes Leben zukommen lassen, um ihren geschundenen Seelen Frieden zu verschaffen? Die Idee des Seelenheils ist nicht mehr tragfähig, um uns für andere – auch jene, die wir nicht kennen – einzusetzen und das, was wir haben, mit ihnen zu teilen. Was aber könnte an seine Stelle treten?

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In unserem Audiowalk über.morgen spaziert eine Gruppe Besucher:innen mit Kopfhörern durch Wien. Die erzählten Fragmente einer urbanen gesellschaftlichen Utopie im Jahr 2050 legen sich dabei über die real vorhandene Stadt. Es sind Bilder des Gelingens, auch wenn der Weg dorthin als nicht einfach beschrieben wird. Sie werden als Ergebnisse zivilgesellschaftlicher Kämpfe, sozialer Innovationen und technologischer Entwicklung erzählt. Ihnen zugrunde liegen veränderte Narrative darüber, wer wir Menschen sind und gesellschaftliche Werte, die Kooperation vor Konkurrenz stellen.

Seit 2019 haben wir auf diese Weise vier Städte in die Zukunft versetzt. Unser in vielen Gesprächen nach den Vorstellungen gewonnener Eindruck ist, dass das Bedürfnis nach positiven Zukunftsbildern parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung in dieser Zeit stark zugenommen hat. Viele von uns wollen über ihre Handlungsmöglichkeiten nachdenken, um positive Zukunftsbilder in die Welt zu bringen. Viele handeln schon.

Wir betonen das hier deshalb, weil diesem Umstand im medialen Diskurs wenig Rechnung getragen wird; der starrt weiter auf das gesunkene Vertrauen in die Regierenden und das Abgleiten einer kleinen Gruppe in den Strudel der Verschwörungsmythen. Eine wesentlich größere Zahl an Menschen hat sich aber längst aufgemacht, konstruktiv an den Herausforderungen der gegenwärtigen Krisen zu arbeiten; und der Wunsch dieser Menschen nach Ermutigung und begründeter Hoffnung spricht aus zahlreichen Rückmeldungen, die wir in den vergangenen Jahren zum Audiowalk bekommen haben. Zudem hat uns aus vielen anderen Städten Interesse an diesen Spaziergängen in die Zukunft erreicht.

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„Seelenheil“ und „Paradies“ lassen sich aus dieser Perspektive vielleicht neu deuten, nämlich als Techniken des futurings oder, wie wir es gerne nennen, des Utopierens. Es geht um eine gute Zukunft, die so nie völlig erreichbar sein wird. In der alten Form sind das Fiktionen, mit denen ständig ideologischer Missbrauch getrieben wurde. Es ist daher notwendig, diese rigiden Idealbilder durch ein spielerisches, kollaboratives Imaginieren zu ersetzen.

Denn dieses gemeinsame Utopieren macht uns selbst zu Vorfahr:innen. Zu Begründer:innen einer besseren Welt, aus der dann zukünftige Bewohner:innen dieses Planeten wohlwollend-kritisch und im besten Fall auch dankbar zurückschauen. Ähnlich wie es uns heute ergeht, wenn wir beim Spazieren durch einen jener Wiener Parks, die im 19. Jahrhundert angelegt wurden, innehalten und den uns unbekannten Menschen, die diese grünen Inseln erdacht, ermöglicht, gebaut und bepflanzt haben, für ihre Weitsicht und Großzügigkeit Bewunderung zollen. Dieser Spaziergang – in der Pandemie eine der wenigen urbanen Vergnügungen – ist heute möglich, weil damals jemand über sich selbst hinausgedacht hat.

Das Konzept des Vorfahr:innen-Seins gehört niemandem. Es ist uralt und kommt zu uns von jenen indigenen Bevölkerungen auf der ganzen Welt, die in ihrem lokalen Ökosystem, ihrer Bioregion so nachhaltig gelebt haben und leben, dass dort auch für die nächsten sieben Generationen ein gutes Leben mit ausreichend Ressourcen möglich sei. Damit reicht es auch weit über den eigenen Nachwuchs hinaus und kann für uns in den westlichen Gesellschaften ein tragfähiges Fundament für transformatives Tätigsein bilden.

Schon immer also wurde an gute Zukünfte gedacht. Und dann danach gehandelt. Wir glauben, es stärkt die Rolle der Kunst in unserer Gegenwart, wenn künstlerische Projekte Anstöße liefern, sich dieser Tatsache zu erinnern.

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Zuerst erschienen in: dreizehn. Programmheft Februar – Juli 2022. WUK performing arts